ZusammenfassungDer Artikel untersucht den Wohlfahrtsstaat als politische Quelle von Solidarität und fragt nach den Solidarisierungspotentialen von Sozialpolitik. Können derart abstrakte, staatlich organisierte und über Beitrags- und Steuerzahlungen formalisierte Unterstützungsbeziehungen in einer Gesellschaft überhaupt Solidarität hervorbringen und wenn ja, welche Mechanismen sind dafür verantwortlich? Die Analyse beruht auf der Annahme, dass soziale Solidarität in hochgradig differenzierten Gesellschaften auf politische Steuerungsleistungen angewiesen ist, und betrachtet Sozialpolitik als eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung von Solidarität unter Fremden. In der Tradition der klassischen Soziologie wird Solidarität hier als dynamisches und elastisches Konzept gedacht (Abschn. 2). Daran anknüpfend untersucht der Beitrag die Solidarisierungspotentiale moderner Wohlfahrtspolitik aus institutionalistischer Perspektive. Abschn. 3 stellt die zentralen institutionentheoretischen Annahmen vor und arbeitet drei solidaritätsrelevante Wirkmechanismen heraus: die Kompassfunktion (normative Ebene), die Stabilisierungsfunktion (interpersonelle Ebene) und die Scharnierfunktion (organisationale Ebene). Aus institutionentheoretischer Sicht strukturieren sozialpolitische Institutionen in ihrem dynamischen Zusammenspiel aus Leitideen, Institutionen und Organisationen das Bewusstsein und Verhalten und prägen mittel- und langfristig deren individuelle Präferenzen und Einstellungen (bspw. in Bezug auf Umverteilungspräferenzen oder Gerechtigkeitsvorstellungen). Entsprechend stellt der Wohlfahrtsstaat einen wesentlichen Produktions- und Reproduktionsfaktor von Werten, Handlungspraktiken und horizontalen wie vertikalen gesellschaftlichen Beziehungen dar. Das Theoriemodell wird anschließend anhand der Sozialgeschichte und Funktionsweise des deutschen Sozialstaates beispielhaft angewendet, obgleich nicht in einem hypothesentestenden, sondern empirisch plausibilisierenden Sinn unter Zuhilfenahme der soziologischen und sozialhistorischen Wohlfahrtsstaatsforschung. Die Analyse erlaubt es, ambivalente bis krisenhafte Sozialstaatsdeutungen und widersprüchliche gesamtgesellschaftliche Zeitdiagnosen wie Polarisierung vs. neue Solidaritäten besser einordnen und aufeinander beziehen zu können.