Bei einer Bestandsaufnahme der aktuellen Forschung zur römischen Republik geht es nicht allein darum, von den Forschern zu sprechen, die heute eine nationale Geschichtsschreibung verkörpern, sondern man muss auch die in Betracht ziehen, die unsere großen Lehrer oder die Lehrer dieser Lehrer waren. In Hinblick auf Frankreich ist da als herausragende Persönlichkeit Claude Nicolet (1930-2010) zu nennen, der von den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts und bis in die 1990er Jahre im wahrsten Sinne des Wortes Schule gemacht hat. 1 Doch er war keineswegs ein isolierter Fall und wir wollen zu Anfang eine Reihe anderer zeitgenössischer Tendenzen der Forschung hervorheben. Der Reichtum und die Vielseitigkeit der Geschichtsschreibung zur römischen Republik in Frankreich 2 Die erste Richtung der Forschung gründet sich auf die Vitalität der antiken Wirtschaftsgeschichte. Es war vor allem Jean Andreau 2 , der in diesem Bereich mit der größten Entschiedenheit theoretische Fragen anging. Unter seinen Veröffentlichungen kann man zwei herausragende Themen ausmachen: einerseits die Forschungen zum Bankwesen, den Bankiers, dem Milieu der Geschäftsleute und den Gepflogenheiten des Finanzwesens, und andererseits die allgemeineren Untersuchungen zur antiken Wirtschaft. Bei Letzteren griff er in die Diskussion über den modernen oder primitiven Charakter der antiken Wirtschaft ein, d. h. über ihre vorhandene oder fehlende Die Geschichtsschreibung der römischen Republik in Frankreich: sechs Jahrzehn... Trivium, 31 | 2020 Kapazität, sich weiterzuentwickeln. Man kann an dieser Stelle an die Arbeiten von Yves Roman über die Zirkulation und den Warenaustausch in Gallien im 1. Jahrhundert v. Chr. erinnern, die er mit Danièle Roman in einer Geschichte Galliens und dann in einem 2016 erschienenen zusammenfassenden Werk zum Integrationsprozess des römischen Reichs fortgesetzt hat. Eine andere Richtung vertraten Pierre Lévêque und Monique Clavel-Lévêque, die in Besançon ein Forschungszentrum begründet haben, das sich vor allem der Untersuchung der Sklaverei und der landwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse und dann noch besonders den Katastern der antiken Städte widmete. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen waren sowohl in Hinblick auf die Rolle der Sklaven wie auf die Gründung von Kolonien in Gallien und Italien von Bedeutung. Zu nennen sind hier die Arbeiten von Monique Clavel-Lévêque, François Favory, Gérard Chouquer und Antonio Gonzalez, 3 die in mancher Hinsicht Schule gemacht haben, denn die Methode wurde auf andere Bereiche der mediterranen Regionen ausgedehnt. Ein dritter Ansatz steht mit Untersuchungen im Bereich der kulturellen Anthropologie im Zusammenhang, die sich in den 60er bis 90er Jahren in Frankreich unter dem Einfluss von Jean-Pierre Vernant und Pierre Vidal-Naquet entwickelten. Das führte zu einer Erneuerung im Studium der römischen Religion, die sich im Werk von John Scheid manifestiert. Bekanntermaßen hat John Scheid aufgezeigt, dass die römische Religion eine Religion der Praxis war, die Regeln des religiösen Handelns festle...