ZusammenfassungMit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine wurden paradigmatische Gewissheiten einer als normative Ordnung zu denkenden Friedensarchitektur erschüttert. Zweifel an lange als verlässlich befundenen Wissensbeständen erschöpfen sich indes nicht im Umstand eines Staatenkrieges in Europa, wie von realistischen Stimmen zu vernehmen ist. Sie liegen vielmehr im ungeklärten Umgang mit neuen Paradigmen der Disruption begründet, mit dem das Handeln zwischen divergierenden Staatengruppen nicht allein vom Widerspruch an vornehmlich westlichen Auslegungs- und Gestaltungspraktiken geprägt ist, sondern von einer proaktiven Konkurrenz, die Lesarten des Völkerrechts wie auch Formen multilateraler Sicherheitskoordination betreffen. Sie gehen mit eigenen Rationalitäten, Wirklichkeitshorizonten und für legitim befundener Gewaltausübung einher. Russland rekurriert so auf das Völkerrecht und „historische Rechte“ mit extraterritorialen Schutzansprüchen im „nahen Ausland“, sodass der aus dem Völkerrecht des 19. und 20. Jahrhunderts bekannte Raumbegriff an die Stelle souveräner Staaten als seine primären Rechtssubjekte tritt. Deser Beitrag lokalisiert ein Forschungsdesiderat der Konfliktforschung in der situationsangemessenen Reformulierung künftig intensiver beanspruchter Konzepte normgeleiteten Handelns, welche die performative Wirkung solcher Ordnungsvorstellungen als Weltbilder ernstnehmen muss.