Krisensymptome supranationaler Leitbilder – zur Notwendigkeit intergouvernementaler Integration

Abstract

Mit diesem Beitrag soll die These begründet werden, dass die Ursachen der Krise der Europäischen Union sich nicht in der Fehlfunktion einiger Regeln und Institutionen, die vor zwanzig Jahren entworfen und beschlossen wurden, erschöpfen. Sie reichen zeitlich weiter in die Integrationsgeschichte zurück. Eine wesentliche Krisenursache ist der politische Dissens über Intensität und Richtung der europäischen Integration. Das Unionsrecht istauch nach seiner Ertüchtigung durch Rettungsfonds, Sechser-und Zweierpakete, durch Semester, Verfahren und Kennziffernnur begrenzt geeignet, den Konflikt zu lösen. Die Folgebereitschaft der Mitgliedstaaten ist nicht in jedem Fall gegeben, und das Handeln der Unionsorgane hat eine Durchsetzungsschwäche offengelegt. Notwendig ist eine Debatte über die Wirtschaftspolitik in der Union. Die Europapolitik und die sie tragenden gesellschaftlichen Kräfte sollten ihr romantisches Integrationsverständnis endgültig aufgeben oder stärker an realpolitischen Bedingungen eines "europäischen Deutschlands" ausrichten. Sechs kürzere Analysen sollen die These begründen, im Sinne eines Zwischenrufs zur europäischen Krise, die bereits eine Legislaturperiode andauert. This contribution argues that the causes of the European crisis should not only be sought in the malfunctioning of a particular set of rules and institutions that were created twenty years ago. Instead, a closer look at the history of the EU appears necessary. One major factor is the ongoing political disagreement on the intensity and direction of European integration. EU law is only partially capable of resolving this conflict, despite its recent expansion through rescue funds, six-and two-packs, semesters, further procedures and benchmarks. The willingness of the Member States to adhere to European law is not uniform, exposing a deeply rooted inability of the Union's organs to implement their decisions and triggering a wider debate on European economic policy. Germany's political actors and the social forces that support them should finally abandon their romantic ideal of integration and instead accept the Realpolitik-based condition of a "European Germany". Six short analyses are presented to support this hypothesis, summarising insights drawn from a European crisis that has already spanned an entire electoral term.

Krisensymptome supranationaler Leitbilder – zur Notwendigkeit intergouvernementaler Integration

“…Das marktorientierte Grundmodell der Integration, "die Marktgerechtigkeit", soll durch "soziale Gerechtigkeit" entsprechend angepasst oder sogar ersetzt werden. 47 Es stellt sich die Frage, ob direkte Vertei-lungsentscheidungen der Union rechtfertigbar sind und ob sie die Verteilungskonflikte institutionell bewältigen können. 48 Die politische Forderung, in der europäischen Wertegemeinschaft über den Wert "Demokratie" (Art.…”

“…50 Der institutionelle Rahmen der Union wäre überfordert, die politischen Konflikte auszugleichen. Die "sozial-politische Ideenwelt" der Mitgliedstaaten, in deren Gesellschaften Umverteilung durch kulturelle Prägungen unterschiedlich wahrgenommen werden, 51 dürfte sich kaum mit der Situation ZSE 2/2013 205 in den Entscheidungsgremien decken, die über Verteilungsfragen zu befinden hätten.…”

“…55 Der Europäische Rat setzte sich mit diesem Standpunkt durch, obwohl das Europäische Parlament, das der erforderlichen Ratsverordnung zustimmen muss, seinen politischen Dissens mit dem Beschluss der Staats-und Regierungschefs bereits frühzeitig erklärt hatte. 56 Zuletzt hatte die irische Ratspräsidentschaft eine Einigung verkündet, worauf der Berichterstatter im Europäischen Parlament sein Mandat für das Dossier niederlegte. 57 Mit geringfügigen Änderungen in der Sache einigten sich die Präsidenten des Parlaments und der Kommission mit dem irischen Ratsvorsitz am Rande des Europäischen Rates Ende Juni 2013 dann doch auf dieses Ergebnis.…”

“…In der integrationsgeschichtlichen Literatur wurde vorgeschlagen, zwei Grundströmungen zu unterscheiden: 69 Die eine, für die der deutsche Historiker Walter Lipgens steht, denke vom Bürger. Die europäische Integration sei die Antwort auf die Jahrzehnte des Krieges und der Vernichtung.…”

“…Für die andere Denkströmung steht der britische Historiker Alan Milward. 71 Er prägte die These, dass die europäische Integration von den Nationalstaaten getragen sei, um die Wünsche ihrer Bürger nach Frieden und Wohlstand zu erfüllen. Im Wortsinn der These geht es um die Rettung des Nationalstaats (Rescue of the Nation State) -der Nationalstaat sei in Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, losgelöst von Gewinnern und Verlierern, zwar weiter als Staat, aber eben nur noch als integrierter Staat denkbar.…”