Der Gender Orgasm Gap. Ein kritischer Forschungsüberblick zu Geschlechterdifferenzen in der Orgasmus-Häufigkeit beim Heterosex

Abstract

Zusammenfassung Einleitung Seit den 1960er-Jahren wird in Wissenschaft, Frauenbewegung und breiter Öffentlichkeit darüber diskutiert, dass und warum Frauen beim Heterosex seltener Orgasmen erleben als Männer und ob und wie man diesen Gender Orgasm Gap schließen kann. Im Rahmen eines bio-psycho-sozialen Verständnisses von Sexualität werden Gender Orgasm Gaps theoretisch sehr unterschiedlich erklärt. Forschungsziele Ziel des vorliegenden Forschungsüberblicks ist es, die bisherigen empirischen Befunde zur Größe des Gender Orgasm Gap zu berichten sowie die vorgeschlagenen Praxismaßnahmen zu seiner Überwindung zu präsentieren und kritisch zu diskutieren. Methoden Im Zuge einer systematischen Literaturrecherche wurden n = 20 empirische Publikationen zum Gender Orgasm Gap und zusätzlich n = 16 wissenschaftliche Originalarbeiten zu seinem Abbau identifiziert und kodiert (1982–2021). Ergebnisse Die eingeschlossenen Umfragen basieren auf Angaben von N = 49 940 Frauen und N = 48 329 Männern und zeigen, dass typischerweise 30 % bis 60 % der befragten Frauen berichten, beim Heterosex zum Orgasmus zu kommen, im Unterschied zu 70 % bis 100 % der Männer. Je nach Rahmenbedingungen des Heterosex schwankt die Größe des Gender Orgasm Gap zwischen –20 % und –72 % zuungunsten der Frauen. Die vorliegenden zehn bevölkerungsrepräsentativen Umfragen ergeben einen gewichteten mittleren Gender Orgasm Gap von –30 % [95 %iges Konfidenzintervall: –31 %; –30 %]. Die in der bisherigen Fachliteratur vorgeschlagenen Maßnahmen zum Schließen dieser Orgasmus-Lücke beziehen sich auf personale Faktoren, Beziehungsfaktoren, sexuelle Interaktionsfaktoren und gesellschaftliche Faktoren: Frauen wird empfohlen, den eigenen Orgasmus bewusster anzustreben und in der Beziehung offener über sexuelle Wünsche zu sprechen. Zudem wird Frauen und Männern geraten, mehr direkte klitorale Stimulation in den Heterosex zu integrieren und Orgasmen von Frauen gesellschaftlich zu demarginalisieren. Schlussfolgerung Aus dem bisherigen Forschungsstand leitet sich die Notwendigkeit ab, Fragen rund um den Gender Orgasm Gap weiterhin in Wissenschaft und Praxis zu bearbeiten. Angesichts der begrenzten Erfolge der letzten Dekaden scheint es jedoch auch geboten, die bisher verfolgten Ansätze im „Kampf um Orgasmus-Gerechtigkeit“ kritisch zu hinterfragen.

Fragen an das Dr.-Sommer-Team

“…Dieses Dilemma ist indessen schwer aufzulösen: Jede Form der Information über eine sexuelle Option, die man selbst (noch) nicht im eigenen Repertoire hat, kann als unerfüllte Leistungsnorm empfunden werden. Dennoch fordert die feministische Literatur weiterhin, mehr Informationen zu verbreiten über konkrete Techniken, die Lust und Orgasmen bei Mädchen und Frauen fördern ( Döring und Mohseni 2022 ). Die „Bravo“ scheint sich dieser Aufklärungsphilosophie anzuschließen.…”

Sex Differences in Sexual Motivation in Humans and Other Mammals: The Role of Conscious and Unconscious Processes

“…Rather it would be due to the fact that women experience less satisfaction with several sexual activities than men do [187,188]. The proportion of sexual encounters leading to orgasm is far higher in men than in women [189,190], whereas far more women than men experience pain during penile-vaginal intercourse [191,192]. Women are victims of sexual violence far more frequently than men [193,194], and fear of putting oneself in a potentially dangerous situation may restrain women's desire to have sex with unknown or little-known men [195,196].…”

Genito-pelvine Schmerzstörung (Penetrationsstörung) – eine qualitative Interviewstudie zur Perspektive Betroffener auf die Versorgung im deutschen Gesundheitssystem

“…Dementsprechend stellte es für sie ein Empowerment dar, durch einen genderneutral formulierten Ergebnisbericht nicht auf diese Rolle festgelegt zu werden. Die Tatsachen, dass Frauen häufiger Opfer von sexualisierten Grenzverletzungen und Gewalt werden ( Kruber et al 2021 ), es gesellschaftlich negative Folgen haben kann, über das Erlebte zu sprechen ( Delker et al 2020 ), und Frauen beim Heterosex seltener einen Orgasmus erleben als Männer ( Döring und Mohseni 2022 ), bestätigen die Befragten in ihrer Wahrnehmung der Frauenrolle. Weitere Forschung zu Versorgung und Behandlung von GPPPD könnte diese kollektiven Erfahrungen noch stärker berücksichtigen.…”