Anfang des 20. Jahrhunderts steckte die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft in einer Art Sackgasse. Bis dahin hatte man sich fast ausschließlich am genetischen Prinzip orientiert, d.h. Ähnlichkeiten in verschiedenen Sprachen auf genealogische Verwandtschaft zurückgeführt; als hauptsächliche Aufgabe der Sprachwissenschaft galt es, den gemeinsamen Ursprung zu rekonstruieren und die Entwicklung der verwandten Sprachen nach der Auflösung der Ursprache zu beschreiben. Die Hoffnung, irgendwann einmal die diachronische Entwicklung aller indogermanischen Sprachen aus einer organisch zusammenhängenden Ursprache ableiten zu können, zerbrach jedoch endgültig nach der Entdeckung und Entzifferung des Tocharischen (1908) und Hethitischen (1917. Obwohl beide Sprachen eindeutig indogermanisch waren, zeigte das Tocharische trotz seiner extrem östlichen Lage doch westliche Merkmale (es war z.B. eine Kentum-Sprache und hatte mit dem Keltischen und Lateinischen das Medium/Passiv auf -r gemein), und das Hethitische wies trotz seines hohen Alters (1800 bis 1200 v. Chr.) nicht den formenreichen synthetischen Charakter auf, den man aufgrund der bisherigen Forschungen zum Indogermanischen hätte erwarten können: Es war nur mäßig flektierend und hatte viele Kategorien anscheinend bereits verloren -oder einfach nie besessen.Weil er die genetisch orientierte Arbeitsweise als einseitig und unzulänglich empfand, setzte ihr der Prager Linguistenkreis in den zwanziger und dreißiger Jahren die Ansicht entgegen, daß die ererbten Merkmale einer Sprache und ihre Geschichte nur einen Gegenstand der Sprachforschung darstellten und daneben auch erworbene Merkmale und deren Verbreitung erforscht werden müßten. Rückblickend bemerkt R. Jakobson, daß dieser Schritt durchaus der gängigen Praxis in anderen Sozialwissenschaften entspreche (1938: 49): car l'exploration des ressemblances héritées d'un état préhistorique commun n'est dans les sciences sociales comparées, par ex. dans l'étude de l'art, des moeurs ou des coutumes, qu'une des questions à traiter, et le problème du développement des tendances mutatives l'emporte ici sur celui des résidus.Einer der bekanntesten Beiträge des Prager Linguistenkreises zu einer neuen Betrachtungsweise in der vergleichenden Sprachwissenschaft ist der von N.S. Trubetzkoy vorgeschlagene deutschsprachige Begriff "Sprachbund", der übrigens auch in der englischsprachigen Forschung benutzt wird. Zumindest hat die linguistische Nachwelt dieses Konzept als Modell für die Verbreitung erworbener Merkmale benutzt, jedoch zu Unrecht, wie unten nachzuweisen sein wird.