Häufiger Bezugspunkt sozialwissenschaftlicher Forschung ist der Terminus eines Europäischen Sozialmodells (ESM). Dabei bleibt meist unscharf, was genau unter einem ESM zu verstehen ist. Der Begriff ist schillernd, da er verheißend verwendet wird, und nebulös zugleich, da keine eindeutige Definition existiert, auf welcher Ebene und mit welchen Komponenten ausgestattet das ESM zu verorten ist. Ungeachtet der (richtigen) Auffassung, dass es sich um "ein ebenso unterbestimmtes wie umstrittenes Konzept" handelt, 1 ist jedoch eine Annäherung und Klassifizierung möglich. 2 Hier soll ein Beitrag zu einer Ordnung der zahlreichen vorliegenden Deutungsversuche geleistet werden, indem auf die epistemologischen Besonderheiten unterschiedlicher Forschungsstränge Rücksicht genommen und ihre Perspektiven miteinander verschränkt werden.Denn in den vorliegenden Arbeiten zum ESM spielen mehrheitlich entweder Aspekte der europäischen Integrationsforschung oder der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung eine vorrangige Rolle. Die komparative Analyse differenter Wohlfahrtswelten in der Europäischen Union akzeptiert in Bezug auf das ESM zwar einen historisch gewachsenen, gemeinsamen sozialpolitischen Acquis sowie die Existenz von auf Einzelpolitiken bezogenen Wertvorstellungen. Darüber hinaus fokussiert sie jedoch auf die Singularität von in Clustern organisierten wohlfahrtsstaatlichen Arrangements, die nur durch Pfadbrüche zu überwinden sind. Gegen die Verortung des ESM als modellhafte Idee, deren Verwirklichung an die Gestaltung nationaler Sozialpolitiken gebunden ist, steht seine integrationstheoretische Analyse auf der Gemeinschaftsebene. Darin ist das ESM integraler Bestandteil eines europäischen Lösungswegs für die Überwindung wohlfahrtsstaatlicher Divergenzen und die Annahme gemeinsamer Herausforderungen für alle EU-Staaten. Dieser Weg kann durch einen negativen oder einen positiven Integrationsverlauf befördert werden, führt aber zu unterschiedlichen Ergebnissen, da entweder die ökonomische oder die sozialpolitische Dimension das Bild des ESM prägen.Diese prinzipiell differenten Ansätze in der Definition des ESM reichen über das wissenschaftliche Spektrum hinaus in die höchst kontrovers geführte politische Diskussion um den künftigen Verlauf der europäischen Integration hinein. Seit der Verankerung des Begriffs in den frühen 1990er Jahren im europapolitischen Diskurs haben sich die verschiedenen politischen Akteure an seiner Deutung, Interpretation und Vereinnahmung versucht. 3 Welche Perspektive auf die Gestaltung des ESM dabei besonders prägend und einflussreich war und ist, wird durch das vorherrschende theoretische Verständnis von Wohlfahrtsstaatlichkeit und Integrationsprozess deutlich. 1 1 Hans-Wolfgang Platzer: Europäisches Sozialmodell und sozialpolitisches Regieren (in) der EU. Zum integrationspolitischen Kontext und den Perspektiven der Offenen Methode der Koordinierung, in: Stamatia Devetzi/ Hans Wolfgang Platzer (Hrsg.