Till Nitschmann/Florian Vaßen 24 schaftlichen Zwänge, kann nur in Form der Diskontinuität, als »Tigersprung« 42 , begegnet werden. In der Rettung der Vergangenheit, der Konzentration auf das uneingelöste Recht der Toten, deren Zukunft die Gegenwart der Lebenden ist, deren einst vergebliches Hoffen in diesen weiterlebt, liegt auch insofern die Chance der Gegenwart, als sich an den Versäumnissen der Vergangenheit das Glück der Gegenwart orientiert. Nicht das »Ideal der befreiten Enkel«, sondern das »Bild der geknechteten Vorfahren« 43 ist demnach Antrieb für Veränderung.Die Gegenwart aber steht nicht mit einer beliebigen Vergangenheit in Verbindung, sondern mit einer bestimmten früheren Epoche. An die Stelle leerer Chronologie tritt der Zusammenschluss zeitlich nicht zusammengehöriger, aber kongruenter Geschichtssituationen. »In einer materialistischen Untersuchung wird«, so Benjamin, »das epische Moment unausweichlich im Zuge der Konstruktion gesprengt werden.« 44 Die Montage von aus der Kontinuität herausgelöster Bilder ersetzt auch für Müller den narrativen Verlauf: »Ich selbst kann keine Geschichten mehr lesen, kann auch keine Geschichten mehr erzählen und schreiben.« 45 Das bedeutet die Abwendung von der traditionellen Fabel, das Aufgreifen von neuen Handlungsmomenten, bevor die vorhergehenden zu einem Abschluss gekommen sind, das Einsetzen von Zeitraffer und Anachronismus, etwa in Form der Konstruktion von historischen Szenenpaaren wie z. B. in Germania Tod in Berlin (1956/71/77) -»Der Kessel von Stalingrad zitiert Etzels Saal.« 46 Heiner Müllers Texte als ›synthetische Fragmente‹ und als »Erinnerung an die Zukunft« (W 11, 369) stehen für eine ›Ästhetik der Störung‹, sie unterbrechen die Kontinuität des Bekannten und Alltäglichen. Literatur und Theater dienen ihm dabei als »Sprengsatz«, der das »Kontinuum« 47 zerstört, als »die Lücke im Ablauf, das Andre in der Wiederkehr des Gleichen, das Stottern im sprachlosen Text, das Loch in der Ewigkeit, der vielleicht erlösende FEHLER« (W 2, 118, Hervorhebung im Original), sodass »die Wiederkehr des Gleichen als eines anderen«, eben als »Differenz« (W 10, 335) möglich wird.