Einleitung"Kürzlich schrieb der ungarische Schriftsteller György Konrád mit Blick auf die Geschichte Europas: ‚Erinnern ist menschlich, wir können sagen, das Humane an sich.' Sein Hinweis, daß die Natur sich der Geschichte gegenüber gleichgültig verhalte, betont die den Menschen isolierende Fähigkeit, sich erinnern zu können, auf zwiespältige Weise, als sei diese Gabe Gnade und Fluch zugleich; Fluch, indem sie nicht von uns abläßt, Gnade, indem sie den Tod aufhebt. So reden wir in der Erinnerung mit Lebenden und Gestorbenen. Indem man sich an uns erinnern wird, werden wir überleben. Das Vergessen jedoch besiegelt den Tod." 1 "Erzählt Kinder, erzählt! […] Laßt den Faden nicht abreißen, Kinder! Denn solange wir noch Geschichten erzählen, leben wir." 2 "Es galt, den absoluten Größen, dem ideologischen Weiß oder Schwarz abzuschwören, dem Glauben Platzverweis zu erteilen und nur noch auf Zweifel zu setzen, der alles und selbst den Regenbogen graustichig werden ließ." 3 Die Erinnerung, das Erzählen, der Zweifel: Die mit diesen Begriffen verbundenen Implikationen formen in unterschiedlicher Ausprägung und wechselnden poetischen Formen sowohl aus der Perspektive des Autors als auch aus literaturwissenschaftlicher Sicht das Gesamtwerk des gattungsübergreifend arbeitenden Schriftstellers Günter Grass (1927-2015)und zwar vom Beginn seiner Arbeit als zeichnender Schreiber 4 an. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden insbesondere zwei Argumentationsstränge verfolgt: ein werkgeschichtlicher, der auf die Erweiterung bereits vorliegender Einordnungsmodelle durch eine gewichtige Akzentverschiebung beim späteren Erzählwerk hinausläuft, und ein poetologischer, der die Interpretationen der aus noch zu erläuternden 1