Die Korintherbriefe erlauben die Beobachtung einer sich über längere Zeit hinziehenden Rezeption des Evangeliums im synkretistischen Lebensraum einer hellenistischen Grosstadt. Die Missionierung Korinths stellt die an hermeneutischen Prozessen interessierte Auslegung vor immer neue Fragen. Die Schwierigkeiten, mit welchen sie dabei zu kämpfen hat, beruhen nicht nurauf dem fragmentarischen und tendenziösen Charakter der vorliegenden Briefe. Nicht selten behindert eine wenig reflektierte oder zu befangene theoretische Einstellung des Exegeten eine genauere Erfassung der historischen Vorgänge. Gerne erliegt man der Versuchung, sich mit Paulus zu identifizieren und dessen Verständnis des Evangeliums zu übemehmen. Trotz seiner hellenistischen Bildung blieb Paulus weitgehend den Vorstellungen seiner apokalyptischen Eschatologie verpflichtet, empfand die Verkündigung des Evangeliums als einen ihm auferlegten Zwang (Röm. 1. 5; I 9. 16; II 3. 5 f.; 5. 14, 20; Gal. 1. 11 f.) und verstand die Botschaft selber als ein autarkes Wort Gottes, das sich in eigener Dynamik (Röm. 1. 16; I 1. 18; II 4. 7; 10. 4 ff.; 1 Thess. 1. 5; 2. 13) gegen alle Widerstände des Hörers durchzusetzen vermag. Darum fragte er kaum nach den hermeneutischen Bedingungen, die das Rezeptionsfeld von ihm forderte.