Wenn man aus dem Fach der Behindertenpädagogik auf die Pädagogik blickt, fällt es nicht schwer zu erkennen, dass sie zutiefst und konstitutiv durchdrungen ist von Vorstellungen über das Normale und das Anormale -auch wenn der Begriff des Normalen erst dem Vokabular und einem konziseren Verständnis des ausgehenden 19. Jahrhunderts entstammt. In der Pädagogik tauchen in dieser Zeit erste Bestimmungen des ‚Normalen' auf, welche sich systematisch auch von ‚Anormalem' unterscheiden -zuvor waren das ‚Allgemeine' und das ‚Besondere' die theoretischen Ordnungsoperatoren, in denen das Besondere auch noch als Teil des Allgemeinen gedacht war: "Im 18. Jahrhundert […] tritt in jedem Menschen das Individuelle neben das Generelle, das Partikulare neben das Universale" (Gaier 2004, 198). Die wissenschaftlichen Ordnungsanstrengungen des 19. Jahrhunderts lassen jedoch das Allgemeine und das Besondere in ein neues Verhältnis treten und leiten den Prozess der Normalisierung ein: "Die Loslösung des ‚alten', auf Norm und Vernunft bezüglichen Sprachgebrauchs durch einen neuen, […] wird auch im deutschen Sprachgebrauch in den dreißiger Jahren des 19. Jh. faßbar", indem Normalität als Resultat von "Prozeduren der Normierung und Normalisierung" verstanden wurde (Kudlien & Ritter 1984). Die systematische Hervorbringung des Anormalen als das Andere des Normalen war damit dem Diskurs des 19. Jahrhunderts vorbehalten, wozu nicht zuletzt die neu entstehenden Bevölkerungsstatistiken beitrugen: Aufruhend auf Erfahrungen mit den ersten Industrienormen führten die neuen, diesmal numerischen Daten über den Menschen dazu, diese verwaltbar zu machen und mit Ressourcen und Praktiken in Verbindung zu bringen, die vor allem durch das Erziehungs-und Gesundheitssystem begrifflich in das Alltagsdenken eingewandert sind (Canguilhem 1977, 161). Es war ein großes Programm gesellschaftlicher und politischer Normalisierung, das zur "Durchsetzung grammatischer Normen", "Normen für die Industrie (Normalmeter, Normalspur, Normalarbeitstag) und für das Gesundheitswesen (Sanitätsnormativ, Normalgewicht), für die Erziehung (Normalschulen) bis zu den morphologischen Normen für Menschen und Pferde in der Armee" führte (Kudlien & Ritter 1984). Der Vorstellung des Normalen lag aber immer auch schon eine "normative Entscheidung des Normalen" zugrunde (Canguilhem 1977, 161), die an die Entwürfe von Allgemeinem und Besonderem aus dem 18. Jahrhundert anschließt, aber nunmehr auch idealtypische Beschreibungen des Menschen beinhaltet (vgl. Zichy 2017, 54 und Geisenhanslüke in diesem Band).