Julian S. Corbett und die britische Seekriegführung 1914—18

Abstract

Julian S. Corbett und die britische Seekriegführung 1914-18* I. ProblemstellungDie Frage, inwieweit die Aufarbeitung historischer Erfahrungen eine Hilfe auch für das Handeln der in Staat und Gesellschaft Verantwortlichen sein kann, ist immer wieder gestellt worden. Landmann formuliert dazu in der Einleitung zu seiner Übersetzung des »Peloponnesischen Krieges« : »nicht aus der Geschichte lernen wir, wie man zu sagen pflegt; Geschichte ist der täglich wachsende Haufen stummer dummer Fakten; erst vom Geist durchleuchtet kann sie die Gegenwart lehren, und solch ein Lehrer für die Nachwelt will Thukydides sein, ein Lehrer fruchtbaren Wissens, das helfen soll zum richtigen Handeln« 1 . Im Übergang vom 19. in das 20. Jahrhundert waren die Versuche, aus Kriegen der Vergangenheit Lehren für Strategie und Taktik abzuleiten, auffallend häufig 2 . Hubatsch sieht, am Beispiel Mahans, hierin »eine merkwürdige Frucht des Historismus des 19. Jahrhunderts«, einen untauglichen Versuch zur Übertragung historischer Erfahrung in ein verändertes Umfeld 3 . Auch Corbett hat sich diesem Versuch unterzogen, und in seinen historischen Schriften allgemeingültige Regeln der Kriegführung herauszuarbeiten versucht. Der Verlauf der Geschichte hat die Theorie Corbetts schon bald mit der Wirklichkeit eines Krieges konfrontiert. Inwieweit diese Theorie dabei als Hilfe zum richtigen Handeln hätte tauglich sein können, ob sie die wesentlichen Optionen der Seekriegführung geistig vorweggenommen hat, soll im folgenden untersucht werden. Das Schwergewicht der Untersuchung wird auf dem Vergleich der Theorie mit nachweisbaren Plänen und Entschlüssen liegen. Eine direkte Beeinflussung führender Männer durch die Schriften Corbetts ist auf Grund der Quellenlage nur sporadisch nachweisbar. Da die von Corbett vorgelegte Theorie bewußt die Gesamtkriegführung eines Staates behandelt, kann die Untersuchung sich nicht auf Fragen der Seekriegführung beschränken. Schließlich sollen, wenn auch nur am Rande, Aspekte deutscher Seekriegführung mit einbezogen werden, um der Wechselwirkung von Plänen und Entscheidungen beider Kriegsgegner gerecht zu werden. Nicht zuletzt wegen des Zeitabstandes zu den Ereignissen kann die Seekriegführung im Ersten Weltkrieg heute als weitgehend geklärt gelten. Über die zwischen den Weltkriegen herausgegebenen deutschen und englischen Seekriegswerke und die zahlreiche Erinnerungsliteratur der Beteiligten hinaus 4 sind nach 1945 insbesondere die zusammenfassenden Darstellungen von Roskill und Kennedy 5 sowie für die deutsche Seite Hubatsch 6 zu nennen. Die detaillierte Arbeit Marders schließlich überzeugt durch die Vollständigkeit des verarbeiteten Materials 7 . Die neueren Ansätze von Steinberg und Berghahn die die Betonung auf innenpolitische und sozialökonomische Zusammenhänge legen, sind für die Betrachtung des Spannungsfeldes zwischen Seekriegstheorie und tatsächlicher Seekriegführung von eher untergeordneter Bedeutung. Sir Julian Stafford Corbett wurde 1854 als Sohn eines Architekten geboren 9 . Er studierte Jura in Cambridge und ve...