Einleitung: Gedankenexperimente, Kontrafaktizität und das Selbstverständnis der Wissenschaften um 1900

Abstract

1897 verçffentlicht Ernst Mach in der Zeitschrift für den Physikalischen und Chemischen Unterricht einen Aufsatz "Über Gedankenexperimente", in dem er dem Menschen eine "instinktive Neigung zum Experimentieren" zuspricht, die auch und gerade das Experimentieren in Gedanken mit einschließt. 1 Stelle man sich die Umstände einer bestimmten Sachlage vor und binde "an diese die Vorstellung, Erwartung, Vermutung gewisser Folgen", so kçnne man eine wirkliche "Gedankenerfahrung" machen. 2 Das Gedankenexperiment als "Spiel der Phantasie" ermçgliche es, mit "geringeren Kosten" den "gedanklich geformten Inhalt[] der Erfahrungen" in einem "logisch-çkonomischen Läuterungsprozeß zu klären" und einflusslose von maßgeblichen Umständen zu unterscheiden. 3 Dies kçnne etwa geschehen, indem man "einen oder mehrere Umstände, welche quantitativ auf ein Ergebnis Einfluß haben, in Gedanken quantitativ vermindert und schließlich zum Verschwinden bringt, so daß die übrigen Umstände als allein maßgebend angesehen werden". 4 Vermutet Mach eine anthropologische Dimension des Gedankenexperiments, 5 so betont mit Max Weber ein gewichtiger Vertreter der Geistes-und Sozialwissenschaften zumindest dessen wissenschaftliche Funktionalität. Weber, der sich verschiedentlich intensiv mit der Wissenschaftsphilosophie Machs auseinandergesetzt hat, fragt 1906 in seinen "Kritischen Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik", was es für Konsequenzen habe, bei der Rekonstruktion einer historischen Entwicklung davon zu sprechen, dass zu einem jeden Zeitpunkt in der Vergangenheit immer mehrere Mçglichkeiten offen gestanden hätten: "Es bedeutet zunächst die Schaffung -von sagen wir ruhig: -Phantasiebildern durch Absehen von einem oder mehreren der […] Bestandteile der ,Wirklichkeit' und durch die denkende Konstruktion eines […] abgeänderten Hergangs." 6 Ob im Sinne Webers als "Probe" auf die kausale Adäquatheit historischer und soziologischer Erklärungen oder im Sinne Machs als çkonomische Methode, zusätzliche Erfahrungen zu machen bzw. physische Erfahrungen zu ersparen 7 -Gedankenexperimente traten um 1900 als genuines Instrument der Erkenntnisproduktion in den Blick. Bereits