Dermato‐Venerologie in Zeiten eines post‐AIDS Sexualverhaltens

Abstract

Liebe Kolleginnen und Kollegen, AIDS hat seinen Schrecken verloren -jedenfalls in den hochentwickelten Ländern der postindustrialisierten Welt. Moderne HIV-Medikamente blockieren die Virusreplikation so weitgehend, dass die Infektion bei frühzeitigem Therapiebeginn quasi folgenlos bleibt und bei fast uneingeschränkter Lebensqualität eine normale Lebenserwartung resultiert. Diese nahezu vollständige Replikationshemmung bedeutet aber auch, dass die Infektiosität aufgehoben ist: wo kein Virus ist, besteht auch keine Infektiosität [1]. Seit neuestem bietet die chemoprophylaktische Einnahme HIV-wirksamer Medikamente (Präexpositionsprophylaxe; PrEP) Menschen mit einem HIV-Infektionsrisiko einen wirksamen zusätzlichen Schutz vor Ansteckung. Viele Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), erleben jetzt eine lang ersehnte Befreiung vom sogenannten Kondomzwang und damit eine sexuelle Revolution, die der mit Einführung der Antibabypille verbundenen durchaus vergleichbar ist. Diese Freiheit fordert jedoch ihren Preis: aktuelle Daten der deutschen MSM-Screening-Studie zeigen, dass einerseits nur zehn Prozent der HIV-negativen PrEP-Gebraucher Kondome verwenden, und, dass andererseits während einer Beobachtungszeit von sechs Monaten bei gut 40 % mindestens eine bakterielle STI diagnostizierbar wurde [2, 3]. Die multivariaten Risikodeterminanten waren größere Partnerzahl, Kondomverzicht und der Gebrauch sogenannter Partydrogen, wie Chrystal, Speed, Kokain, Ecstasy, Badesalze/Spice oder GBL/GHB [3]. Eine australische PrEP-Studie mit 2 892 MSM fand 2016/2018 eine STI-Inzidenz von 91,9 auf 100 PJ [4]. Dabei betrafen 76 % aller STI einen Anteil von nur 25 % der Teilnehmer. Als Risikofaktoren wurden jüngeres Lebensalter, größere Partnerzahl und die Teilnahme an Gruppensexaktivitäten identifiziert. Es wäre nun voreilig, daraus den Schluss abzuleiten, die Einführung von PrEP sei alleinige oder auch nur die Hauptursache für die neue Welle bakterieller STI. Immerhin wurden auch bei 29 % der HIV-positiven beziehungsweise bei 25 % der HIV-negativen, nicht PrEP gebrauchenden MSM STI nachgewiesen. Tatsächlich handelt es sich bei dem weltweit beobachteten Phänomen einer erneuten Zunahme von STI aller Art um eine mittlerweile jahrzehntelange Entwicklung [5]. Dabei werden letztlich Erkrankungszahlen erreicht, wie sie zuletzt in den 1970er Jahren beobachtet wurden. Auch ist diese Entwicklung keineswegs ausschließlich Männersache. In den USA haben sich Chlamydien-Infektionen bei Frauen zwischen 2002 und 2018 von 600 000 auf 1,1 Millionen in etwa verdoppelt und die Anzahl bei Frauen nachgewiesener Gonokokken-Infektionen ist zwischen 2012 und 2018 von 170 000 auf 240 000 angestiegen [6]. In seinem aktuellen Jahresbericht zur epidemiologischen Situation der Gonorrhoe in Europa teilt das ECDC (European Centre for Disease Prevention and Control) mit, dass im Berichtsjahr 2017 durch 27 EU-Mitgliedsstaaten insgesamt 89 239 Fälle von Gonorrhoe (GO) gemeldet wurden [7]. Das entspricht gegenüber dem Vorjahr 2016 einem Anstieg um 17 %. Europaweit erreicht di...