Den Stoff durch die Form vertilgen. Das res / verba-Problem in Friedrich Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen

Abstract

In acknowledgement of both the intellectual aspirations and the poetical style of Friedrich Schiller's Aesthetic Education, the following article will re-interpret a passage in the 22nd letter that can be designated as a ›Poetics in nuce‹. Initially, it will be pointed out that Schiller's theory of human perception as well as his semiotic model focus on the problem of commerce between matter and mind or sign and meaning. Subsequently, it will be shown that the terms Form and Stoff establish a connection between anthropology and poetics by shaping both theories according to the model of metabolism, which is a common metaphor employed to describe the res / verba relation in classical rhetoric. Consequently, I will demonstrate that the epistemological discourse in the letters 24 to 27, in stressing the senses of sight and hearing, leads to a theory of aesthetic communication that integrates rhetorical techniques of creating appearance (»Schein«) by adapting these strategies to the requirements of written communication in print cultures. Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders., Sämtli che Werke, herausgegeben von Peter-André Alt / Albert Meier / Wolfgang Riedel, Band 5, Mün-chen 2004, 570-669; hier: 639. Die Werkausgabe wird im Folgenden zitiert mit der Sigle SW. Brought to you by | Purdue University Libraries Authenticated Download Date | 6/8/15 12:44 AM 132 Jahrbuch Rhetorik • Band 33 Varun F. Ort Diesen Sachverhalt bringt Schiller auf die bündige Formel: »Darin also besteht das eigentli che Kunstgeheimnis des Meisters, daß er den Stoff durch die Form vertilgt«. 4 Die terminologische Opposition Form / Stoff stammt aus der Rhetorik. Schon die deutschen Poeti ken des 17. Jahrhunderts 5 integrierten diese »konventionelle sprachphilosophische Metapho rik, welche das Verhältnis von Wörtern (verba) und vorgelagerten Dingen (res) bezeichnet«, 6 und Schiller gebraucht sie in den Ästhetischen Briefen in analoger Weise, um die res von den verba einer Dichtung zu unterscheiden: Der am griechischen Muster geschulte Künstler solle »[d]en Stoff […] zwar von der Gegenwart nehmen, aber die Form von einer edleren Zeit, ja jenseits aller Zeit, von der absoluten unwandelbaren Einheit seines Wesens entlehnen.« 7 Nun ist -wohl auch im Anschluss an Ernst Cassirers Wertung, in den ästhetischen Trakta ten werde »nicht bestimmten abstrakten Gedanken nur äußerlich eine künstlerische Form gege ben«, sondern sie seien »selbst von Anfang an und schon ihrer ersten Konzeption nach eine neue selbstständige Form« 8 -die Rhetorizität insbesondere der Ästhetischen Briefe mehrfach untersucht worden. Richtungsweisend war Herman Meyers Aufsatz zu Schillers philosophischer Rhetorik 9 aus dem Jahr 1959, das Verdienst allerdings, den Traktat selbst als transformierende Fortschreibung rhetorischer Theoriebildung zu deuten, kommt Gert Uedings Dissertation über Schillers Rhetorik (1971) zu. 10 Er ist auch der einzige Interpret, der die Relevanz der ›Poetik in nuce‹ erkannt hat. Demgegenüber blende...