Es gab wohl keinen anderen Herrscher am spätmittelalterlichen Horn von Afrika, der christlicher Religiosität einen so hohen Stellenwert in seiner Herrschaftspraxis einräumte wie Zärʾa Yaʿəqob (1399-1468): Er verfasste zahlreiche theologische Schriften, setzte religiöse Reformen durch und führte neue Feiertage ein. Dabei stand für ihn stets das Ziel der nationalen und religiösen Einheit an oberster Stelle. So bezeichnet der äthiopische Historiker Tadesse Tamrat in seinem grundlegenden Werk zu Kirche und Staat in Äthiopien die Agenda dieses nəguś (= Herrscher) als "religious nationalism". 1 Im Zuge seiner Bemühungen musste Zärʾa Yaʿəqob auch immer wieder die eigene Position als legitimer Herrscher sichern und gegen Gruppierungen vorgehen, die seine Autorität in Zweifel zogen oder eine Gefahr für die Einheit des Reichs darstellten. Dies klingt im ersten Moment nach einem rein politischen Vorhaben -doch unter Zärʾa Yaʿəqob war Politik stets untrennbar mit Religion verknüpft. Welches aber war das Religionsverständnis des Königs? In welchen Kontexten äußerte sich dieses? Und wie stand es in Wechselwirkung mit seinen politischen Zielen und seinem Selbstverständnis als Herrscher? Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden. Dafür wird in einem ersten Schritt die Rolle des Christentums im spätmittelalterlichen Äthiopien umrissen. Darauf aufbauend soll Zärʾa Yaʿəqobs Auffassung von Religion in unterschiedlichen Kontexten exemplarisch untersucht werden: in einer von ihm verfassten Schrift, dem sogenannten ‚Buch des Lichts', in Zeichen und Werken der visuellen Kultur, in seinem Verhalten gegenüber dissidenten religiösen Gruppen und in seinem Handlungsspielraum nach außen, hier am Beispiel des Patriarchen von Alexandria. Die Salomonische Dynastie, die ab 1270 über Äthiopien herrschte, erhob seit den ersten Jahrzehnten ihres Königtums einen religiös legitimierten Herrschaftsanspruch. 2 Dieser war in ihrem Nationalepos, dem Kəbrä nägäśt (= Ruhm der Könige), in Form einer Ursprungslegende festgelegt. Laut der Quelle, die nicht klar datiert