Bei Goethe überall zu lesen ...

Abstract

Spätestens seit Ende der zwanziger Jahre, endgültig seit seinen Wiener Vorträgen von 1932/33 berief sich Anton Webern wiederholt auf Goethes naturwissenschaftliche Studien und Morphologie, um mit ihrer Hilfe und ihrer Terminologie ein theoretisches Fundament der Reihentechnik zu skizzieren. Für diese Sachlage hat die Webernforschung schon seit längerer Zeit ein besonders empfindliches Organ. Selbst jenen, die Weberns Goetherezeption als einen grundlegenden Faktor seines Musikdenkens und Komponierens interpretierten, schien jenes "biologische Goetheerbe" nicht ganz geheuer zu sein. Dies mag vielleicht auch daran liegen, daß man insgeheim einen ideologischen Horror vor einer bestimmten Goetherezeption hatte, die schon vor 1920 auf eine Totalitätskonzeption hinsteuerte, mit welcher Goethe in gewissen Kreisen eines antiaufklärerischen und antidemokratischen Konservativismus zum Antipoden einer modernen zivilisierten Welt avancierte.' Daß auch mit Hilfe von Goethes Morphologie heftige Kulturkonflikte des frühen 20. Jahrhunderts ausgetragen wurden, war überaus symptomatisch für eine Goetherezeption, die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr allein auf den engeren Bereich der Germanistik und der Naturwissenschaften beschränkte, sondern nun eine breite Öffentlichkeit erfaßte. Goethes umfassende Morphologie der Natur-und Kunstformen wurde -und dies hielt sich bis in unsere Zeit -auf einer sehr breiten Basis und in sehr verschiedenen, widersprüchlichen ideologischen wie wissenschaftlichen und auch politischen Varianten ausgelegt und festgeschrieben. Und viele vertrauten auch nach 1900 Darwins Evolutionstheorie und der Goetheinterpretation seiner Anhänger aus der Schule von Ernst Haeckel (1834-1919). 2