Kinder und Jugendliche befinden sich im Alltag häufig in sozialen Urteilssituationen, in denen sie andere Personen anhand der äusseren Erscheinung einschätzen. Beispielsweise erhalten in sozialen Medien oder auf dem Schulhausplatz oftmals jene Gleichaltrigen viel Aufmerksamkeit, die in ihrem Äusseren als cool wahrgenommen werden (Rodkin et al., 2006; Belk et al., 2010). Äussere Eigenschaften von Personen (z. B. Kleidungsstil, Gesichts-züge) werden auch genutzt, um auf Charaktereigenschaften und Absichten der beurteilten Personen (z. B. Feindseligkeit einer Person) zu schliessen (vgl. Over & Cook, 2018). Jugendliche mit einer geistigen Behinderung (GB) weisen aufgrund ihrer eingeschränkten kognitiven und adaptiven Fähigkeiten besondere Voraussetzungen auf (WHO, 2019), die mit spezifischen sozialen Urteilstendenzen (z. B. polarisierende Urteile) und einer erhöhten Orientierung an äusseren Einflüssen (sowohl nicht-sozialer als auch sozialer Natur) beim sozialen Urteilen einhergehen könnten (vgl. Bybee & Zigler, 1998; Dekkers et al., 2017). Beispielsweise könnten sich diese Jugendlichen aufgrund von Schwierigkeiten, Reaktionen auf störende Umweltreize (z. B. blinkende Werbebanner auf Webseiten) zu unterdrücken, besonders stark von irrelevanten Informationen in sozialen Medien ablenken lassen (Danielsson et al., 2012; Bexkens, Ruzzano et al., 2014). Dadurch könnten ihnen Informationen entgehen, die für das Treffen von sozialen Urteilen wichtig sind (vgl. Lange, 2005). Zudem könnten sich diese Jugendlichen aufgrund von Unsicherheiten beim sozialen Urteilen stark an den geäusserten sozialen Urteilen von Gleichaltrigen orientieren (vgl. Bybee & Zigler, 1998). Obwohl die genannten Verhaltenstendenzen beim sozialen Urteilen zu erhöhten sozialen Risiken bei Jugendlichen mit einer GB führen können, wurde diese Thematik bisher kaum erforscht. Um soziale Urteilstendenzen und die Beeinflussbarkeit von Jugendlichen mit einer GB durch nicht-soziale Reize und durch sozialen Einfluss (z. B. durch Gleichaltrige) zu untersuchen, wurden im Rahmen der vorliegenden kumulativ angelegten Dissertation computerbasierte Aufgaben entwickelt. Diese Aufgaben wurden innerhalb von zwei Studien mit zwei unterschiedlichen Stichproben von Jugendlichen mit einer GB und mit Vergleichsgruppen von Jugendlichen ohne GB (dasselbe chronologische Alter; CA) und jüngeren Kindern mit vergleichbaren kognitiven Voraussetzungen (dasselbe mentale Alter; MA) durchgeführt. Die Vergleichsgruppen dienten dazu, Aussagen über die Rolle des CA und MA hinsichtlich der untersuchten Verhaltenstendenzen treffen zu können. Dabei wurde den Fragestellungen nachgegangen, inwiefern sich Jugendliche mit einer GB 1.) in ihren sozialen Urteilstendenzen und 2.) in ihrer Beeinflussbarkeit durch nicht-soziale Reize und durch Gleichaltrige von Jugendlichen ohne GB und Kindern desselben MA unterscheiden. Die Ergebnisse der vorgelegten Studien bestätigen die Annahme, dass Jugendliche mit einer GB zu stärker polarisierenden und stärker positiven sozialen Urteilen neigen als Jugendliche ohne GB und grösstenteils eine stärkere Beeinflussbarkeit durch nicht-soziale Reize und durch Gleichaltrige zeigen als Jugendliche ohne GB (vgl. Originalbeiträge 1–3). Zudem orientierten sich Jugendliche mit einer GB im Vergleich zu Jugendlichen ohne GB stärker an einer als zugehörig charakterisierten Subgruppe von Gleichaltrigen (Eigengruppe) in Abgrenzung zu einer als nicht zugehörig charakterisierten Fremdgruppe von Gleichaltrigen (vgl. Originalbeitrag 3). Zwischen Jugendlichen mit einer GB und Kindern desselben MA zeigten sich keine Unterschiede in den sozialen Urteilstendenzen, und es wurden grösstenteils auch keine Differenzen in der Beeinflussbarkeit gefunden. Diese Ergebnisse lassen darauf schliessen, dass Jugendliche mit einer GB beim sozialen Urteilen einem erhöhten sozialen Risiko ausgesetzt sind, da sie zu extremeren sozialen Urteilen neigen und sich stär-ker durch nicht-soziale Reize und durch unbekannte Gleichaltrige beeinflussen lassen als Gleichaltrige ohne GB. Gleichzeitig könnten die gewonnenen Erkenntnisse Chancen für das soziale Lernen von Jugendlichen mit einer GB eröffnen. Theoretische und praktische Implikationen werden in der vorliegenden Dissertation diskutiert.