Vorwort der Herausgeber

Abstract

Liebe Leserinnen und Leser, der bekannte Übersetzer Curt Meyer-Clason wagte es nach eigener Aussage nicht, das portugiesische "nadas nuvens" (aus nada ‚nichts' und nuvem ‚Wolke' jeweils im Plural) in einem Werk des brasilianischen Autors Guimarães Rosa als "nichtse Wolken" zu übersetzen und begnügte sich mit "wesenlose Wolken". Er verzichtete auf die Nachbildung des kreativen Verstoßes gegen die normative Grammatik und reproduzierte neben einer semantischen Annäherung an die Vorlage des Originals nur die Alliteration. Anhand solcher Beispiele setzt sich Holger Siever in seinem Aufsatz (S. 153-159) mit Problemen auseinander, wie denen, die sich bei der Übersetzung literarischer Texte ergeben, in denen sich die Kreativität des Autors unter anderem in sprachlichen Neuschöpfungen manifestiert und in denen obskure und mehrdeutige Stellen vom Autor beabsichtigt sind. Wie können diese Neuschöpfungen bei der Übersetzung nachkreiert werden? Wie weit ist dies überhaupt möglich, inwieweit gehört es zum Auftrag des Übersetzers? Die Frage, ob Treue zum Originaltext oder Loyalität dem Autor, dem Leser des Textes und vielleicht auch noch einem Auftraggeber gegenüber, verschärft sich noch, wenn größere Zweifel darüber bestehen (Guimarães Rosa kann man nicht ohne solche Zweifel lesen), was der Autor wirklich ausdrücken wollte und was der Text darüber hinaus an vom Autor vielleicht nicht beabsichtigten, aber trotzdem interessanten Nuancen birgt. Meyer-Clason und Siever ziehen anscheinend zumindest explizit nicht in Betracht, dass formal "nuvens" Attribut zu "nadas" sein kann, nicht nur umgekehrt, und dass sich eine Beziehung zwischen nadas und dem Verbum nadar ‚schwimmen' (auf der Ausdrucksebene) und zwischen nuvens und nadar (auf der bildlich-semantischen Ebene) herstellen lässt. Siever zeigt aber in eindrucksvoller Weise auf, dass weder eine Orientierung an einem sakrosankten Originaltext (der ja nun einmal ohne Rezipienten nicht als solcher realisiert ist und von verschiedenen Rezipienten verschieden realisiert wird) noch eine an einer Autorenintention (inwieweit ist diese auf dem Text zu eruieren, der ja auch vom Autor nicht Intendiertes beinhaltet, inwieweit ist sie wichtiger als das, was ein idealer oder realer Textrezipient versteht?) als alleinige Grundlage für übersetzerische Lösungen ausreicht. Auf den ersten Blick könnte man sich von den übersetzungspraktischen Ausgangspunkten her keinen größeren Gegensatz vorstellen als den zwischen den von Siever kommentierten Problemen der literarischen Übersetzung und denen der Übersetzung von internationalen Wirtschaftverträgen, wie sie Suzanne Ballansat-Aebi (S. 146-152) ohne Bezugnahme auf den Begriff der ‚Kreativität' analysiert. Aber auch in diesem Beitrag geht es wieder um die Abhängigkeit der übersetzerischen Entscheidungen von mehr als Originaltext und Originaltextautorintention. Der Übersetzer muss immer Gewichtungen zwischen Loyalitäten gegenüber verschiedenen Größen vornehmen.Die beiden Beiträge unmittelbar hintereinander zu lesen und nicht zu lange vor-oder nachher den e...