Goethes Dolmetscher – und unser Bild von ihm

Abstract

Eine Kulturgeschichte des Dolmetschens ist noch nicht geschrieben. Nur wenig wissen wir über das Bild, das sich verschiedene Kulturen und Epochen vom Dolmetschen gemacht haben. Einen kleinen Mosaikstein zu einer solchen Kulturgeschichte liefert die Beschäftigung mit Goethe, mit dem 1811 entstandenen dritten Buch seines autobiographischen Prosawerks Aus meinem Leben: Dichtung und Wahrheit . Der gut dreißig Seiten umfassende Text lenkt den Blick des über 60jährigen zurück in seine Kindheitsund Jugendjahre in der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main, genauer in das Jahr 1759. Zehn Jahre alt wird Goethe damals. Es ist die Zeit des Siebenjährigen Krieges, in dem Preußen gegen Österreich steht, gegen das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das wiederum von Frankreich unterstützt wird. Das Reich kämpft -wie wir es im Schulunterricht gelernt haben -mit ausländischen Alliierten gegen einen Teil seiner selbst. Und die Reichsstadt Frankfurt hat den Kaiser und Österreich zu unterstützen, auch wenn das die nicht eben frankreichfreundliche Bürgerschaft spaltet -bis in die Familien hinein. So ist Goethes Großvater, der Reichsschultheiß Textor, als höchster Beamter der Stadt und Vertreter des Kaisers Anhänger der Österreicher und der mit ihnen verbündeten Franzosen. Goethes Vater hingegen ist streng antifranzösisch und "fritzisch" gesonnen, er hofft auf einen Sieg des jungen Friedrich, des Zweiten von Preußen, der später "der Große" genannt werden soll.Am 2. Januar 1759 wird Frankfurt von Truppen besetzt, aber nicht von preußischen, sondern von französischen. Und die richten sich aufs Bleiben ein. Die Frankfurter Bürger müssen ihnen Quartier einräumen, auch Goethes Vater in seinem soeben aufwändig und prächtig restaurierten Haus am Hirschgraben. "Er, ohnehin preußisch gesinnt, sollte sich nun von Franzosen in seinen Zimmern belagert sehen: es war das Traurigste, was ihm nach seiner Denkweise begegnen konnte" (84). Dabei hatte Goethes Vater großes Glück: Zum einen sprach er selbst gut Französisch, zum anderen wurde ihm keine beutegierige Soldateska ins prächtige Haus gelegt, auch kein rotweinverliebter Haudegen, sondern der Königslieutnant Thoranc aus Grasse in der Provence, "der, obgleich Militärperson, doch nur die Zivilvorfälle, die Streitigkeiten zwischen Soldaten und Bürgern, Schuldensachen und Händel zu schlichten hatte" (84). Der französische Graf betrug sich "musterhaft. Nicht einmal seine Landkarten wollte er an die Wände genagelt haben, um die neuen Tapeten nicht zu verderben" (84).Die französische Besetzung Frankfurts und der mehrjährige Aufenthalt des Grafen Thoranc im Haus am Hirschgraben ist für Goethes Biographie ein ganz einschneidendes Datum, dessen Bedeutung in der Goethe-Forschung bisher kaum erkannt wurde. Denn der neunjährige Goethe wächst nun plötzlich bikulturell auf, in vielfacher Hinsicht: Neben, eher sogar vor die Autorität des Vaters tritt die Gestalt des französischen Grafen, der nun im Haus das Sagen hat. Der Gegensatz zwischen dem vom "Gift des Parteigeistes" (103) zerfressenen Vater und dem Gra...